Spirit of Transgender – Text von Holly Boswell zu Trans und Spiritualität

1.11.2023 · Evianne Hübscher

Im Text «Spirit of Transgender» erklärt Holly Boswell (1950-2017), warum wir in der trans Community Spiritualität brauchen und wie die Umsetzung davon aussehen könnte. Dieser Blogbeitrag enthält eine deutsche Übersetzung dieses Textes und ein paar Informationen zu Holly.

In den 1990ern hat Holly Boswell den Text «Spirit of Transgender» geschrieben. Weil wir das als einen sehr wertvollen Text erachten, möchten wir ihn in einer deutschen Übersetzung hier zugänglich machen und hoffen, dass das im Sinne von Holly ist.

Wer sich auch von diesem Thema angesprochen fühlt, kann sich an die Gruppe Trans*zendenz wenden – eine Schweizer Gruppe, die sich mit dem Zusammenhang zwischen Trans und Spiritualität befasst. Weitere Texte zu diesem Thema werden folgen unter dem Tag: transzendenz

Zu Holly Boswell

Holly Boswell lebte 1950-2017 und hat u.a. dieses Symbol gestaltet: ⚧. Sier war aber auch ein*e radikale*r Denker*in und Visionär*in. Dabei hat sier u.a. das Essay «The spirit of transgender» [WayBackMachine] geschrieben, welches unten in einer deutschen Übersetzung zu lesen ist und hat diese spirituelle Gemeinschaft (Sangha) von trans Menschen aufgebaut: Kindred Spirits (Mission Statement [WayBackMachine]).

Mehr zu Holly: Profile: Holly Boswell (LGBTQ Religious Archives Network)

Text: Der Geist von Transgender 

von Holly Boswell · Copyright 1997-1998
«Spirit of Transgender» Englischer Originaltext [WayBackMachine]
Übersetzung ins Deutsche: Mi Müller

Uralte Wurzeln

Was bringt uns an diesen Ort, den wir «transgender» nennen – diese Art des Seins, die sich in einer Welt, die darauf besteht, dass wir unseren Genitalien entsprechen müssen, neu definieren, transformieren und neu erschaffen muss? Vielleicht gab es ein Jucken in der Leiste. Ganz sicher aber gab es einen Schmerz im Herzen. Und nicht zu vergessen die seelischen Qualen.

Forscher untersuchen verursachende Faktoren wie Chromosomen, einzigartige hormonelle Konfigurationen und natürlich psychosoziale Einflüsse … Aber ich frage dich: Was glaubst du, was hat dich trans gemacht? War es der Juckreiz, der Schmerz, die Angst … oder war es auch etwas anderes? – Etwas, das die meisten Menschen nicht definieren können, etwas, das mensch «Geist» nennt.

Dieses «Körper-Herz-Verstand(Mind)-Geist»-Muster ist ein uraltes, universelles Konstrukt. Die meisten von uns verbringen einen Grossteil ihres Lebens im «Körper-Verstand»-Modus. Einige von uns schaffen es, auch im «Herzraum» zu sein. Aber wie viele besuchen tatsächlich die Dimension des «Geistes» – und sei es nur ein paar Mal, weit weniger regelmässig? Ich habe jedoch beobachtet, dass viele trans Menschen diese Dimension nicht nur besuchen – aus der Notwendigkeit heraus – sondern oft von dort kommen.

Und was ist Geist, wenn nicht der Impuls, der sich danach sehnt, sich zu manifestieren – im Fleisch, mit vollem Herzen und Bewusstsein. Abgesehen von den Chromosomen und der Sinnlichkeit, gibt es da nicht etwas sehr Klares und Offensichtliches, das hier durchkommt? Sind wir nicht Geist, der sich in seiner eigenen glorreichen Vielfalt manifestiert? Wissenschaftler*innen werden vielleicht nie in der Lage sein, dieses wunderbare Vorkommen zu messen oder zu erklären, aber wir sind der lebende Beweis dafür, dass sich der Geist jenseits der begrenzten sozialen Konstruktionen von Geschlecht manifestiert.

Bei der Betrachtung dieses vagen und oft vergessenen Begriffs des «Geistes» ist es sehr interessant festzustellen, dass die meisten älteren Weltreligionen ihre Gottheiten als hermaphroditisch und ganz-geschlechtlich wahrgenommen haben. Ardhanarisvara im Hinduismus, Avalokitesvara und Kuan Yin im Buddhismus und Dionysos im griechischen Pantheon sind Beispiele dafür. Die göttliche Androgynität spiegelt sich in späteren Darstellungen von Avataren wie Sri Krisna im Vedanta, Lan Ts’ai Ho im taoistischen China und sogar Jesus Christus wider. In der Qabbalah spiegelte Adam einen androgynen Gott wider, bevor er sich in Eva spaltete und anschliessend in Ungnade fiel. Wie viele Adlige ahmten auch die Pharaonen Ägyptens ihre Götter nach, die in ganz Afrika meist androgyn waren. Auch Engel und Feen werden gewöhnlich als androgyne Wesen wahrgenommen. Die Reflexionen des Transgender-Geistes sind uralt und tiefgründig.

Inzwischen leben wir in einer überwiegend patriarchalischen Welt, in der die primären Gottheiten männliche Werte widerspiegeln. Gott der Vater wird als Geist wahrgenommen, während Mutter Natur zu einem Status von schlackiger, unbelebter Materie degradiert wurde. Auch unsere Vorstellungen von den Geschlechtern sind von dieser tiefgreifenden Polarisierung geprägt – vielleicht als eine Art «Teile und Herrsche»-Strategie des Patriarchats, das die Menschheit wie auch die Natur selbst beherrschen und kontrollieren will.

Das war nicht immer so. Tatsächlich herrschte bis in die jüngste Zeit der Menschheitsgeschichte (vor etwa 5’000 Jahren) in den meisten Kulturen ein Geist der Göttin vor. Das bedeutete nicht, dass die Frauen über die Männer herrschten. Vielmehr herrschte ein Gefühl des Gleichgewichts und der Partnerschaft ohne Machthierarchien oder die Notwendigkeit, auf bewaffnete Konflikte zurückzugreifen. In ihrem Buch Der Kelch und die Klinge erklärt Riane Eisler, wie die Unterwerfung des Weiblichen direkt mit der Ausbeutung und Zerstörung der Natur zusammenhängt und Krieg als einzige definitive Methode zur endgültigen Lösung eingesetzt wird – erst erzwungen, dann durchgesetzt.

Wenn diese Dynamik von Geist und Natur erkannt wird, ist es dann ein Wunder, dass Fragen des Geschlechts im gesamten Bereich der Menschheit eine zentrale Rolle spielen? Und angesichts der Prämisse von Transgender, dass der Ausdruck des Geschlechts unabhängig vom biologischen Geschlecht erfolgen kann, ist es durchaus verständlich, dass trans Menschen mit diesem kulturell auferlegten Konflikt auf sehr persönliche und tiefgreifende Weise ringen. Die Prozesse der Geschlechtertransgression sind einfach ein Weg für den Geist, die vergänglichen Verrücktheiten und Diktate menschlicher Kulturen zu transzendieren, um seine glorreiche Vielfalt in der Natur – und in unserem eigenen Fleisch – freier zu manifestieren. Dieser Prozess bildet die Wurzel der Transgender-Spiritualität.

Ungeachtet der jüngsten Bemühungen der westlichen Wissenschaft, hormonelle oder chromosomale Ursachen zu beweisen, ist es wirklich kein Geheimnis, dass sich trans Menschen durch die ganze Geschichte hindurch als Ausdruck des Geistes manifestiert haben. Es gibt immer wieder reichlich Beweise dafür, dass unser Fleisch vom Geist informiert und inspiriert wird, ganz gleich, ob wir ein kräftiger MTF Ex-Fussballstar sind oder eine zierliche FTM Ex-Ballerina. Wenn der Geist sich bewegt, ist alles möglich. Und wie Walter Williams in «The Spirit and the Flesh» (Der Geist und das Fleisch) hervorhebt, gibt es, wenn sich der Geist jenseits der reproduktiven Imperative manifestiert – ob lesbisch, schwul oder trans – andere Segnungen, die wir teilen können: einzigartiges Bewusstsein und seltene Gelegenheiten, unsere Welt zu bereichern.

Wir entdecken dank der Bemühungen von Anthropologen und anderen, die verschiedene Aspekte der Geschichte wieder aufleben lassen, welche vom Patriarchat fast ausgelöscht wurden, dass die Traditionen der Transgender-Spiritualität alle Zeiten und Orte umspannen. Trans Menschen haben durch die gesamte Geschichte hindurch besondere Rollen eingenommen, die ihren einzigartigen Fähigkeiten entsprachen und von denen viele spirituell orientiert waren. Sie waren Sehende und Heilende, die Zeremonien und Rituale zelebrierten, Beamt*innen, die Hochzeiten und Geburten segneten und Tote zur letzten Ruhe betteten, Hütende und Lehrer*innen spiritueller Prinzipien, Vermittelnde zwischen Ehefrau und Ehemann, Stamm und Nation, der menschlichen und der geistigen Welt.

Primäre Werte

Die meisten der ältesten, so genannten primitiven spirituellen Weltanschauungen haben in der Tat starke gemeinsame Themen. Einige der Kernkonzepte von Traditionen wie Wicca (Alteuropa), Taoismus (China), vielen Traditionen der amerikanischen Ureinwohner*innen und Schamanismus auf der ganzen Welt sind:

  1. Alles ist eine lebendige Manifestation des Geistes.
  2. Harmonie und Gleichgewicht zwischen allen Wesen müssen respektiert werden.
  3. Die Vielfalt aller Lebensformen muss geehrt und gefeiert werden.
  4. Alle Wesen sind göttlich und geniessen direkten Zugang zum Geist.

Lasst uns dies der Reihe nach erkunden.

Die Erde ist lebendig: Felsen, Wasser, Wolken, Vulkane, die gesamte Flora und Fauna – ganz zu schweigen vom Kosmos der Sterne und Planeten. Die Göttin ist im Wicca und anderswo nicht von der Welt getrennt, noch herrscht sie über die Welt – sie ist die Welt, als manifestierter Geist. Wir sind alle ein Organismus, eins im Geist.

Ein zeitgenössischer Anasazi-Pueblo-Führer (verwandt mit den Hopi, der ältesten Kultur Amerikas) sagt es so:

Ich sehe die Notwendigkeit für mein Volk und für alle Menschen, aufgrund der Art und Weise, wie die Dinge heute sind, in der Zeit zurückzugehen und den Respekt füreinander wiederherzustellen. Die Menschen in (meinem) Pueblo haben immer eine spirituelle Lebensweise gehabt und respektvoll gehandelt. Abgesehen davon, was Menschen aus anderen Gesellschaften über unsere so genannte Religion denken, wir bezeichnen es nicht als Religion, sondern als einen Teil unserer Spiritualität, unserer Existenz. Wenn wir diesen Teil unseres Lebens jemals verlieren, werden wir mit Sicherheit untergehen. Wir würden zu einem Volk in einer verlorenen Welt werden und dann gäbe es keinen Grund mehr für ein Weiterleben im physischen Sinne. Das ist ein Teil unseres Lebens seit der Geburt unseres Volkes. Unser Land ist nicht unser Land, wir sind nur ein Teil des Landes. Wir alle müssen uns als menschliche Wesen gegenseitig mit Respekt behandeln und insbesondere müssen wir auch Mutter Erde mit Respekt behandeln, damit wir alle in der Zukunft überleben können. Bitte lasst uns alle vereint sein und einander verstehen, denn die Zukunft unserer Kinder liegt in unseren Händen.

Ein Leben im Gleichgewicht, das heute auf den Versuch hinausläuft, ein verlorenes Gleichgewicht wiederherzustellen, ist entscheidend. In der taoistischen Philosophie ist die Bedeutung des Gleichgewichts zwischen Yin und Yang – weiblichen und männlichen Energien – seit langem anerkannt. Um Starhawk, eine Gründerin der Reclaiming-Bewegung, zu zitieren:

Unsere Beziehung zur Erde und zu anderen Spezies, die sie mit uns teilen, wurde durch unsere religiösen Modelle geprägt. Das Bild von Gott als ausserhalb der Natur stehend hat uns eine Begründung für unsere eigene Zerstörung der natürlichen Ordnung geliefert und unsere Plünderung der Ressourcen der Erde gerechtfertigt. Wir haben versucht, die Natur zu «erobern», so wie wir versucht haben, die Sünde zu besiegen. Erst als die Folgen von Umweltverschmutzung und Umweltzerstörung so gravierend wurden, dass sie sogar die Anpassungsfähigkeit der städtischen Menschheit bedrohten, erkannten wir die Bedeutung des ökologischen Gleichgewichts und die gegenseitige Abhängigkeit allen Lebens. Das Modell der Göttin, die der Natur immanent ist, fördert die Achtung vor der Heiligkeit aller Lebewesen. (Wicca) kann als eine Religion der Ökologie angesehen werden. Ihr Ziel ist die Harmonie mit der Natur, damit das Leben nicht nur überleben, sondern gedeihen kann.

Jede*r Biolog*in weiss, dass das Überleben einer Art von der Vielfalt ihres Genpools abhängt. «Die Göttin liebt, wie die Natur, die Vielfalt», sagt Starhawk. Unsere trans Schwester Rena Swifthawk hat uns gelehrt, dass in den Kulturen der amerikanischen Ureinwohnenden der Glaube herrscht, dass «Unkraut nicht existiert». Jedes Wesen hat ein heiliges Ziel und niemand darf verschwendet werden. Doch in patriarchalischen Kulturen ist der Druck, sich anzupassen, allzu oft grösser als jede Ermutigung, ganz sich selbst zu werden – was Jung Individuation nannte. Trans Menschen spüren dies sehr deutlich.

Da der Geist allgegenwärtig ist, haben alle Wesen einen direkten Zugang zum Göttlichen. Die Zeremonienkammern der Hopi, Kivas genannt, sind rund und unterirdisch. Die Priester*innen treten aus einem unterirdischen Tunnel in die Mitte, um die Weisheit und Wahrheit der Erde zu bringen. Dies steht im Gegensatz zu den Priester*innen westlicher kreuzförmiger Kirchen, die Gottes Wort von hoch gelegenen Kanzeln predigen. Im Wicca gibt es kein Dogma, keine heiligen Schriften oder ein heiliges Buch, das von Prophet*innen oder Erlösenden offenbart wird. Jeder Mensch ist dafür verantwortlich, seine eigene Wahrheit zu offenbaren. Die Unterweisung kommt direkt von der Natur, die die Göttin ist. «Das Einssein wird nicht dadurch erreicht, dass man das Selbst verschliesst, sondern dadurch, dass man es vollständig verwirklicht. Ehre die Göttin in dir selbst, feiere dich selbst, und du wirst sehen, dass das Selbst überall ist». Im Tao Te Ching erinnert uns Lao Tzu daran:

Es ist nicht nötig, nach draussen zu rennen, um besser zu sehen, noch aus einem Fenster zu schauen. Bleibe lieber im Zentrum deines Seins: Denn je mehr du es verlässt, desto weniger lernst du.

Es ist bezeichnend, dass das Wort Wicca vom angelsächsischen Wortstamm abgeleitet ist, der «biegen oder formen» bedeutet, also das Unsichtbare nach dem eigenen Willen formen. Dies unterstützt die Vorstellung, dass wir als göttliche Vertreter*innen die Freiheit haben, die materielle Welt, die wir bewohnen, zu gestalten. Trans Menschen machen von dieser Freiheit Gebrauch, wenn wir unsere Körper durch Kosmetika, Hormontherapie oder Operationen so gestalten, dass er dem Geist entspricht. Wir übernehmen die Verantwortung für unsere eigene Manifestation.

Ein weiterer gemeinsamer Aspekt der alten spirituellen Praxis ist der Schamanismus. Schaman*innen auf der ganzen Welt haben bemerkenswert wirksame Techniken entwickelt und praktiziert, um Wohlbefinden und Heilung für sich selbst und andere in ihren Gemeinschaften zu erreichen und zu erhalten. Mit einem Fuss in jeder Welt, legt der*die Schaman*in in der Welt der helfenden Geister im Namen des*der klagenden, erdgebundenen Patient*in Fürsprache ein. Eine der Standardvoraussetzungen, um auf den schamanischen Pfad berufen zu werden, beinhaltet häufig, dass mensch trans ist. Kate Bornstein erklärt:

Meine Vorfahren waren Performer*innen. Im Leben. Bei den frühesten schamanischen Ritualen tauschten Frauen und Männer die Geschlechter. Alte, alte Rituale … es geht um Leben und Tod. Wir sprechen hier von kulturübergreifend. Wir sprechen davon, dass wir weit, weit, weit aufsteigen über das Mann- oder Frausein. So sind meine Vorfahren geflogen. So haben meine Vorfahren mit den Göttinnen und Göttern gesprochen. Alte Rituale.

Gleichgewicht verloren

Mit dem Beginn der Bronzezeit vor etwa 5’000 Jahren verdrängte Welle um Welle von nomadischen kurganischen (asiatischen) Reiterkriegern die friedlichen, agrarischen, 30’000 Jahre alten Göttinnen-Kulturen in ganz Europa und im Mittelmeerraum. Während zuvor «das zentrale religiöse Bild eine gebärende Frau war und nicht, wie in unserer Zeit, ein Mann, der am Kreuz stirbt», erklärt Riane Eisler, «wurden in dieser neuen Realität, von der es nun heisst, sie sei die alleinige Schöpfung eines männlichen Gottes, die lebensspendenden und nährenden Qualitäten durch die Macht zu dominieren und zu zerstören ersetzt».

Die alten Werte, das alte Gleichgewicht wurde gestört und das alte Muster von Partnerschaft und Gleichwertigkeit wurde dem System von Herrschaft und Hierarchie unterworfen. Das schafft Leiden für alle, wie Starhawk anmerkt:

Die Unterdrückung der Männer im von Vater Gott gelenkten Patriarchat ist vielleicht weniger offensichtlich, aber nicht weniger tragisch als die der Frauen. Männer werden ermutigt, sich mit einem Modell zu identifizieren, das kein menschliches Wesen erfolgreich nachahmen kann: Mini-Herrscher eines engen Universums zu sein. Sie sind innerlich gespalten in ein «spirituelles» Selbst, das ihre niedere tierische und emotionale Natur besiegen soll. Sie befinden sich im Krieg mit sich selbst: im Westen, um die Sünde zu «besiegen», im Osten, um das Verlangen oder das Ego zu «besiegen». Nur wenige entkommen diesen Kriegen unbeschadet. Die Männer verlieren den Kontakt zu ihren Gefühlen und ihren Körpern …

Da die Göttinnen-Kultur in diesen letzten fünf Jahrtausenden «im Untergrund» fortbestanden hat, müssen die Manifestationen des Transgender-Geistes bis zu einem gewissen Grad im Zusammenhang mit der patriarchalen Unterdrückung gesehen werden. Daher kann das, was manchmal negativ aufgeladen erscheinen mag, als Reaktion vollkommen gerechtfertigt sein.

Die Unterdrückung und Verfolgung von trans Menschen in dieser Zeit hat viele Formen angenommen und ist unbestreitbar mit der Unterwerfung von Frauen und den Werten der Göttin verbunden. Ein hartnäckiges und gut dokumentiertes biblisches Ziel war es, «die Haine zu fällen» (Stätten heidnischer Kultur) und «die Herrschaft über die Natur zu erlangen». Das mittelalterliche Europa war berüchtigt für die Verbrennung von Hexen, die oft Wicca waren. Jeanne d’Arc wurde verbrannt, weil sie sich wie ein Mann kleidete und verhielt. Als europäische Entdecker wie DeSoto nach Amerika kamen, entdeckten sie transgender Schamanen, nannten sie Berdache (Knabenprostituierte) und verfütterten sie an ihre Hunde.

In diesem Klima der Unterdrückung suchten geschlechtsvariante Menschen nach anderen Wegen, ihre Wahrheit auszudrücken. Um dem Patriarchat zu trotzen, fanden viele die rituelle Selbstkastration (z.B. die Riten von Cybele und Attis) als einen Weg zurück zur Göttin im transgender Geist. Doch in der Unterjochung haben viele auch (wie die Hijras in Indien) Prostitution und Betteln praktiziert. Die traditionellen Kastensysteme in Indien und anderswo mögen zwar schützende Klöster beherbergen, haben es aber versäumt, die aktive Integration der Geschlechtervielfalt innerhalb ihrer Kultur zu fördern.

Bis heute wird die Existenz von trans Menschen verachtet, geleugnet und bagatellisiert. Die transidente Sandy Stone schreibt:

… eine der Methoden, mit denen Menschen die Unterdrückung von Menschen mit einem alternativen Geschlecht oder einer alternativen Sexualität rechtfertigen, ist die Behauptung, dass die soziale Norm natürlich sei. Mit anderen Worten: Sie kommt von Gott, einer Autorität, an die mensch sich nicht wenden kann. All dies ist in Wirklichkeit eine komplette Erfindung, eine Konstruktion. Es gibt kein «natürliches» Geschlecht, denn «Geschlecht» als medizinische oder kulturelle Kategorie ist nichts weiter als das momentane Ergebnis von Kämpfen darüber, wem die Bedeutung (Deutungshoheit) der Kategorie gehört. In der Genetik gibt es eine viel grössere Vielfalt, als die meisten Menschen ausser Genetiker*innen erkennen, aber wir machen das durch die Sprache unsichtbar … indem wir keine Worte für irgendetwas anderes als männlich oder weiblich haben. Eine der Möglichkeiten, wie unsere Kultur Menschen auslöscht, besteht darin, dass wir keine Worte für sie haben. Das tut es absolut. Wenn es nichts gibt, um dich zu beschreiben, bist du effektiv unsichtbar.

TV-Talkshows und die Massenmedien haben viel getan, um trans Menschen und unseren Geist auszunutzen und zu trivialisieren. Und während Crossdresser wie RuPaul oder Lady Bunny von Wigstock sowie Filme wie «Priscilla Queen of the Desert» oder «To Wong Foo» derzeit in Mode sind, bildet sich in ultrakonservativen Kreisen der Gesellschaft eine Gegenreaktion.

Könnte diese Gegenreaktion wie ein Dinosaurier sein, der im Todeskampf mit dem Schwanz fuchtelt? Wird es eine kritische Masse an neuem Bewusstsein und einen Paradigmenwechsel geben? Es gibt immer mehr Anzeichen dafür, dass das Patriarchat im Niedergang begriffen ist und eine Erneuerung der Spiritualität auftaucht. Es entstehen viele Brücken aus dem traditionellen Raum durch Autor*innen wie Matthew Fox, Patricia Reilly und Paul Smith. Es gibt viele weitere Beispiele dafür, dass sich der Geist wieder durchsetzt, nicht zuletzt die so genannte New-Age-Bewegung. Themen wie Feminismus, Konsens, Ökologie und Spiritualität stellen das Gleichgewicht wieder her. Unser Bedürfnis, uns weiterzuentwickeln, winkt von dieser Schwelle.

Während das Pendel schwingt, kehrt die Göttin zurück. Viele MTF trans Menschen teilen dieses Momentum und setzen ihr Leben dafür ein, dieses Ringen zu verkörpern. Viele FTM trans Menschen streben ebenfalls danach, das Beste der Weiblichkeit in ein neues Gefühl zu bringen, was es heisst, ein Mann zu sein. Diese lange verbotene Bestäubung der Geschlechter hat das Potenzial, uns alle in die Lage zu versetzen, vollständiger Mensch zu werden. So wie Frauen ihre Verbindung mit dem Göttlichen zurückfordern, verbinden sich trans Menschen wieder mit ihrem eigenen, reichen spirituellen Erbe und fordern den heiligen Raum zurück.

Spirituelle Transgender Kreise

Im Westen haben trans Menschen erst vor 3-4 Jahrzehnten begonnen, sich zu versammeln. Anfänglich wurden die Themen Geschlecht, Sexualität und Fetisch aufgrund des kulturellen Kontextes verwechselt. Aber es bildeten sich Selbsthilfegruppen und in den frühen 1980er Jahren entstanden internationale Netzwerke und Kongresse in der ganzen Welt. Seither wurden viele Themen aufgegriffen, darunter auch die jüngste Einführung der Transgender-Spiritualität. Am deutlichsten wurde dies 1991, als Rena Swifthawk ihre Native American Spirituality auf dem I.F.G.E.-Kongress in Denver vorstellte und spirituelle trans Menschen Monate später auf der ersten Southern Comfort Conference in Atlanta Kreise bildeten. Die Kreise wurden bei diesen jährlichen Veranstaltungen fortgesetzt und finden auch andernorts statt, wie z.B. auf der Fantasia Fair in Cape Cod, dem ältesten Transgender-Festival.

Der erste intentionale Transgender Spirit Circle war nach drei Jahren nationaler Vernetzung der Kindred Spirits Circle in Hot Springs, NC im August 1993. Seitdem haben sich diesem Geiste getreu viele weitere Kreise zusammengefunden: Pink Moon Gathering, Full Circle of Women, Union of Spirits, Mountain Spirits und zweifellos weitere, die weniger bekannt sind. Gegenwärtig entsteht in den Bergen des westlichen North Carolina ein Retreat-Zentrum, das sich das ganze Jahr über mit solchen Themen befasst und Kindred Spirits heisst.

Spirituelle Trans-Treffen innerhalb der Trans-Community sind ein recht neues und immer noch umstrittenes Phänomen. Viele trans Menschen praktizieren traditionelle Religionen oder haben noch nicht zu einem spirituellen Leben gefunden. Aber die Sehnsucht nach wahrer Gemeinschaft ist universell. Wie Starhawk es so schön ausgedrückt hat:

Wir alle sehnen uns danach, an einen Ort zurückzukehren, an dem wir noch nie waren, einen Ort, an den wir uns halb erinnern und den wir uns halb vorstellen und von dem wir uns nur von Zeit zu Zeit einen Blick erhaschen können. Gemeinschaft. Irgendwo gibt es Menschen, zu denen wir mit Leidenschaft sprechen können, ohne dass uns die Worte im Hals stecken bleiben. Irgendwo wird sich ein Kreis von Händen öffnen, um uns zu empfangen, werden Augen aufleuchten, wenn wir eintreten, werden Stimmen mit uns feiern, wenn wir in unsere eigene Kraft kommen. Gemeinschaft bedeutet Stärke, die sich mit unserer Stärke verbindet, um die Arbeit zu tun, die getan werden muss. Arme, die uns halten, wenn wir schwanken. Ein Kreis der Heilung. Ein Kreis von Freund*innen. Ein Ort, an dem wir frei sein können.

Bislang sind unsere Kreise eher bescheiden, aber sie werden immer grösser. Sie sind intim und erschwinglich und ihre Fähigkeit zu heilen und zu ermächtigen ist intensiv. Der Austausch und die Pflege, die zwischen «verwandten», spirituellen trans Menschen möglich ist, ist mit nichts anderem vergleichbar. Sie ist gekennzeichnet durch intuitive Verbindung, Vertrauen, Ehrung der Individualität, Konsens, Spontaneität, minimale Erwartungen, offene Herzen und Minds und keine versteckten Absichten. Während verschiedene therapeutische Methoden, schamanische Techniken und eine Vielzahl spiritueller Traditionen zum Einsatz kommen können, scheint das Hauptmerkmal des Prozesses darin zu bestehen, einfach aus dem Weg zu gehen, damit der Geist durchkommen kann. Traditionelle Ansätze können eine Grundlage und Gültigkeit verleihen, aber wir müssen uns auch selbst autorisieren, indem wir intuitiv handeln. Wie die Göttin sagen würde: «Alle Akte der Liebe und der Freude sind meine Rituale».

Der Geist transzendiert das Geschlecht

Der Transgender-Geist geht über das vereinfachende kulturelle Diktum hinaus, dass das anatomische Geschlecht gleichbedeutend mit dem Geschlechts-Ausdruck ist. Das Geschlecht sollte niemals polarisiert werden. Es ist ein Regenbogen, der in seiner Vielfalt viel zu prachtvoll ist. Der Ausdruck des gesamten Geschlechts muss intuitiv, fliessend und in einem ständigen Zustand des Werdens sein. Es kann keine Regeln geben, die bestimmen, wie sich der Geist manifestieren muss.

Das weit verbreitete Vorkommen von Gemischtgeschlechtlichkeit bei Pflanzen, Tieren und Menschen ist ein anschaulicher Beweis dafür, dass der Geist seine Vielfalt jenseits der kulturellen Konstruktionen des bipolaren Geschlechts zum Ausdruck bringt. Trans Menschen verkörpern diesen Göttinnen-Geist der Vielfalt, integriert als ein ganzes Wesen. Die innere Heilung (was «ganz machen» bedeutet), die wir erreichen, kann im Aussen auf das Ungleichgewicht und die Not, die uns umgeben, angewendet werden. Wir können als Brücke zwischen den Polaritäten dienen, um das Gleichgewicht, die Integration und die Ganzheit wiederherzustellen.

Einige Älteste der amerikanischen Ureinwohnenden glauben, dass in dieser Zeit eine Fülle von trans Menschen geboren wird, die zur Heilung unserer Welt beitragen können. Gender ist der Kern dessen, was wir als menschliche Wesen sind. Unsere Transition – der eigentliche Prozess der Geschlechtsangleichung – kann als eine Art Visionssuche betrachtet werden, bei der es um die uralte Frage geht: Wer sind wir? Geschlechterstereotypen zu überwinden, bedeutet zu wagen, ganz sich selbst zu sein, ganz Mensch, wie es der Geist beabsichtigte. Wir alle müssen unsere vollen Fähigkeiten kultivieren, wenn wir den kritischen Herausforderungen unserer Zeit wirksam begegnen wollen. Doch bevor wir zur Heilung unserer Welt beitragen können, müssen wir uns selbst heilen. Wir müssen unsere Wahrheit aussprechen, alte Mythen umgestalten und die Werkzeuge neu erfinden, die wir brauchen, um in der heutigen Welt mit tiefem Mitgefühl und neuer Relevanz zu handeln.

Früher habe ich meinen spirituellen Weg als ein sehr asketischer gesehen, da mir beigebracht wurde, dass die Sinnlichkeit und «Frivolität» meines Trans-Seins im Widerspruch zum Geist stehe. Ich dachte, ich bräuchte nur eine Decke und eine Schale mit Wasser auf einem Berggipfel. Als ich jedoch dem unwiderstehlichen Ruf meiner Transidentität folgte, war ich erfreut und überrascht zu entdecken, dass sie genau die «Erdung» bot, die ich brauchte. Als die Göttin durch mich lebendig wurde, wurde ich ganzer. Geist und Fleisch, Himmel und Erde, wurden eins. Meine lebenslange Erfahrung in der Wildnis und meine Liebe zur Natur bildeten die Grundlage für diese Heilung. Ich hatte Jahre mit dem Warten vergeudet, mich der unergründlichen Weisheit der esoterischen Lehren würdig zu fühlen, bis ich erkannte, wer wirklich meine Lehrer*innen waren und dass ich so bereit war, wie ich es jemals sein würde, um aus meinem eigenen Bewusstsein heraus zu handeln. Die Herausforderung besteht darin, uns selbst als fürsorgliche und fähige Menschen zu respektieren. In zunehmendem Masse erwachen wir transidenten Menschen und finden intuitiv unsere eigenen Stimmen und Berufungen, trotz der vorherigen Entbehrung unserer Geschichte, der Geschichte oder des Gefühls unserer eigenen Community.

Sobald Geist und Fleisch bewusst miteinander verbunden sind, gibt es Erdung, gibt es Erhabenheit … gibt es Gleichgewicht. Sobald die Notwenigkeit zu polarisieren und zu trennen nachlässt, fallen Barrieren weg und die Angst weicht der Liebe. Wie Starhawk sagte/schrieb:

Alles begann in der Liebe, alles strebt danach, zur Liebe zurückzukehren. Die Liebe ist das Gesetz, die Lehrerin der Weisheit und die grosse Enthüllerin der Geheimnisse.

Die willkürlichen Grenzen des Geschlechts zu überschreiten, bedeutet, das Potenzial des Geistes zu ehren. Im Tao Te Ching schrieb Lao Tzu:

Ein Mensch, der die Flügel eines Mannes hat und auch die einer Frau ist in sich selbst eine Gebärmutter der Welt und, eine Gebärmutter der Welt zu sein, unaufhörlich, endlos, gibt Leben …

Wir sind Gottheiten. Wir sind Geist, der sich in menschlicher Gestalt manifestiert. Lasst uns diese Wahrheit leben und allen helfen, die Schönheit und Stärke zu erkennen, die jenseits der Beschränkungen des Geschlechts liegen. Und lasst uns danken für die einzigartige Gelegenheit, dies zu tun.


Text von: Holly Boswell – Spirit of Transgender [WayBackMachine]
Letztes Update: 1.11.2023