Weitere Aspekte von Geschlecht

< Grundlagen zum Thema Geschlecht

Nebst den in den Grundlagen besprochenen fünf Dimensionen von Geschlecht – körperliche Merkmale, Geschlechtsidentität, Geschlechtsausdruck, Sexualität und Geschlechterrolle – gibt es noch weitere Aspekte von Geschlecht:

  • Gender (soziales Geschlecht)
  • Zugeschriebenes Geschlecht
  • Amtliches Geschlecht
  • Gender-Definition (Selbstbeschreibung)
  • Gender-Attribution (Fremdbeschreibung)
  • Gender-Stereotypen

Gender (soziales Geschlecht)

Der Begriff «Gender» ist ein Oberbegriff und bezieht sich auf die soziale Dimension von Geschlecht. Das Englische unterscheidet «Gender» (soziales Geschlecht) und «Sex» (körperliche Merkmale von Geschlechtlichkeit). Im Deutschen haben wir zwar den Begriff «Gender» übernommen, aber für die körperliche Dimension werden im Deutschen oft Konstruktionen wie «körperliches Geschlecht» etc. verwendet. Das Konzept «Gender» bezieht sich auf die Selbst- und Fremdbezeichnungen: Frau, non-binäre Person, Mann etc. Weiter beinhaltet es auch die verschiedenen Geschlechterrollen und Stereotypen sowie auch amtliche Geschlechter usw.

Zugeschriebenes Geschlecht

Bei der Geburt wird dem Neugeborenen ein Geschlecht zugeschrieben. Im Normalfall passiert das nur über die Beurteilung der äusseren Geschlechtsorgane (deshalb auch Hebammengeschlecht). Interessanterweise geht es in unserer Gesellschaft oft nur darum «ist da ein Penis oder ist da keiner» (die Vulva wird oft nur als Leerstelle gesehen) und auf dieser Basis wird der Eintrag bei der Kategorie «Geschlecht» gemacht. Die anderen nicht direkt sichtbaren geschlechtlichen Merkmale des Körpers werden in den meisten Fällen nicht berücksichtigt. Diese Zuschreibung wird dann zum amtlichen Geschlecht einer Person.

Amtliches Geschlecht

Amtliches Geschlecht ist der Eintrag im Personenstandsregister, im Pass etc. In vielen Ländern sind die einzigen Optionen für das amtliche Geschlecht «männlich» oder «weiblich» und es gibt kein «Drittes Geschlecht» für Menschen, die sich in den anderen Kategorien nicht repräsentiert sehen oder die nicht eingeteilt werden können. Deshalb muss die Zuweisung dann entweder «W» oder «M» sein. Aber zum Glück gibt es immer mehr Länder (Deutschland, Österreich u.v.m.), die solche «alternativen» Einträge ermöglichen.

Mehr zu Recht und non-binärem Geschlecht >

Gender-Definition (Selbstbeschreibung)

Die Gender-Definition ist das «Label» (mehr zu Labels), das jemand sich gibt in der Interaktion mit anderen. Was sage ich den anderen was ich «bin»? Bei cis Menschen und trans Menschen mit «binärer Geschlechtsidentität» ist das meist sehr eindeutig und stabil «Mann» oder «Frau», deshalb ist auch eine Abgrenzung zur Geschlechtsidentität nicht so wichtig. Aber bei non-binären Menschen ist die Definition oft variabel und situativ.

Dass ich mich situativ unterschiedlich bezeichne kann verschiedene Gründe haben:

  • Es kann sein, dass ich bei gewissen Leuten nicht out bin.
  • Ich ahne, dass andere nicht fähig oder willig sind die Komplexität meines Geschlechts zu erfassen und deshalb verwende ich eine einfachere Definition gegenüber dem wie ich mein Geschlecht selber sehe.
  • Ich weiss, dass sich mein Verständnis über mein Geschlecht am verändern ist, aber ich bin mir noch nicht sicher über das Label.
  • Gender in diesem Sinne ist gar nicht wirklich «real» ist für mich, ich weiss aber, dass andere das als Antwort nicht akzeptieren würden.
  • Auch bei «binären» trans Menschen kann es in den einen Situationen wichtig sein eine ganz «normale Frau» oder ein ganz «normaler Mann» zu sein und in anderen Situationen ist es wichtig, sich als trans Frau oder trans Mann zu bezeichnen, um z.B. Sichtbarkeit zu schaffen – die Geschlechtsidentität kann dabei je nach Person eher das eine oder das andere sein.

Gender-Attribution (Fremdbeschreibung)

Ein wichtiger Aspekt in der Interaktion mit anderen ist die Gender-Attribution. Das heisst als was «sehen» mich die anderen oder anders ausgedrückt: Wie werde ich gelesen? Da die meisten Menschen bloss die Konzepte «männlich» oder «weiblich» kennen, werden sie alle Menschen, die sie treffen in eine dieser beiden Kategorien einordnen wollen.

Um eine solche Attribution vornehmen zu können, gibt es verschiedene Hinweise, die jemand dann blitzschnell «scannt», um eine sich für sie verlässlich anfühlende Zuschreibung machen zu können. Von dieser Zuschreibung leitet sich dann für sie ab, wie sie mit dieser Person umgehen etc. Die Hinweise, die «abgecheckt» werden, sind auf verschiedenen Ebenen zu finden:

  • Physisch: Körperform, Haare, Kleider, Stimme, Hautbeschaffenheit etc.
  • Verhalten: Körpersprache, Benehmen, Art der Kommunikation etc.

Alle diese Hinweise haben auch einen Einfluss auf das sog. «Passing» (Wunsch gewisser trans Personen nicht als trans erkannt zu werden). Gewisse Aspekte des Geschlechtsausdrucks kann ich bewusst wählen und auch einfach ändern (z.B. Kleidung). Es gibt aber auch viele Aspekte, die drücken sich unbewusst aus und können z.T. nur schwierig geändert werden (z.B. Körpersprache). Oft reagieren aber andere auf diese Hinweise stärker als auf die bewusst gewählten Aspekte wie unser Styling.

Non-binäre Menschen kämpfen oft mit der Tatsache, dass es in unserer Gesellschaft keine Vorbilder für einen non-binären Ausdruck gibt und somit die Wahrscheinlichkeit sehr klein ist, dass eine Gender-Attribution «non-binär ausfällt».

Gender-Stereotypen

Gender-Stereotypen sind die allgemein verbreiteten und oft auch internalisierten Vorstellungen, was eine «typische Frau» oder einen «typischen Mann» ausmacht. Stereotypen sind problematisch u.a., weil sie von praktisch niemandem erreicht werden können und weil sie praktisch jeden Menschen unnötig einschränken.

Aber die Stereotypen haben auch Vorteile: Nach der Prototypentheorie in der Kognitiven Psychologie gelten gewisse Vertreter von Kategorien als typischer als andere. So wird z.B. ein «Spatz» von den meisten Menschen hierzulande als ein typischerer «Vogel» gesehen als ein «Pinguin». Dies hat u.a. zur Folge, dass typischere Vertreter einer Kategorie schneller als dieser zugehörig erkannt werden als weniger typische. Je typischer desto unbewusster kann die Zuordnung gemacht werden. Das ist auch der Grund, warum trans Menschen mit einer «binären Geschlechtsidentität» einen «Vorteil» haben, wenn sie sich an den Stereotypen orientieren. So werden sie meist unbewusst kategorisiert und können in Frieden leben.

Für non-binäre Menschen gibt es (noch) nicht wirklich Stereotypen – auf jeden Fall nicht allgemein bekannte. Das kann ein Nachteil aber auch ein Vorteil sein.


Text von: Evianne Hübscher
Erste Veröffentlichung: 23.7.2021 | Letztes Update: 10.5.2023