Intergeschlechtlichkeit

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Intergeschlechtliche Menschen haben angeborene Variationen der körperlichen Geschlechtsmerkmale und erleben deshalb in der Schweiz immer noch Menschenrechtsverletzungen durch das medizinische System. Die meisten intergeschlechtlichen Menschen definieren sich als Frau oder Mann und ihre Intergeschlechtlichkeit hat nichts mit «Gender» zu tun, sondern mit der biologischen Dimension von Geschlecht.

Beim Thema «Intergeschlechtlichkeit» (englisch: intersex) geht es darum, dass der Körper von Menschen sich von den gesellschaftlichen Normen und Erwartungen von «männlich» oder «weiblich» unterscheidet. Intergeschlechtlichkeit hat also mit dem Körper von Personen zu tun und nicht mit der Geschlechtsidentität. Es geht dabei nicht um «Gender» (soziale Ebene) sondern um die körperliche Dimension von Geschlecht (siehe auch: Grundlagen von Geschlecht). Ein Grossteil der intergeschlechtlichen Menschen identifiziert sich als binär, weiblich oder männlich (Frau oder Mann) und nur ein kleiner Teil als non-binär – wie auch sonst in der Bevölkerung. Bei non-binärem Geschlecht geht es um die Geschlechtsidentität einer Person – unabhängig vom Körper (mehr: Non-binäres Geschlecht).

Flagge Intergeschlechtlichkeit

Obwohl die biologische Grundlagenforschung schon länger zum Schluss gekommen ist, dass eine binäre Sicht auch in Bezug auf die körperliche Ebene von Geschlecht nicht haltbar ist (siehe Artikel in Nature [englisch], 2015), ist diese Vorstellung in der Gesellschaft immer noch weit verbreitet. Aber eigentlich liegt die körperliche Dimension von Geschlecht auf einem Spektrum (siehe auch Geschlecht als Spektrum, Geschlechter-Radar).

Weil es in der Schweiz auch heute immer noch Menschenrechtsverletzungen gegen intergeschlechtliche Menschen bzw. vor allem Kinder gibt, setzen sich verschiedene Organisationen spezifisch für intergeschlechtliche Menschen und deren Rechte ein: InterAction Schweiz und zwischengeschlecht.org.

Angeborene Variationen der Geschlechtsmerkmale

Unsere Gesellschaft hat enge Normvorstellungen bezüglich: äussere Geschlechtsorgane, innere Geschlechtsorgane, Keimdrüsen, Hormone, Chromosomen und weitere sekundäre Geschlechtsmerkmale. Deshalb gibt es die begriffliche Unterscheidung zwischen «Endogeschlechtlichkeit» und «Intergeschlechtlichkeit»:

Endogeschlechtliche Menschen (auch dyadisch genannt) haben Körper, die bei Geburt einer gesellschaftlichen Norm von Zweigeschlechtlichkeit entsprechen (basierend auf der Annahme, es würde nur männlich oder weiblich geben).

Intergeschlechtliche Menschen haben Körper, die sich bei Geburt von den sozialen Normen und Erwartungen von «männlich» oder «weiblich» unterscheiden. Solche angeborenen Variationen der Geschlechtsmerkmale können den Chromosomensatz, die Hormone und/oder äussere und/oder innere Geschlechtsmerkmale betreffen. Es gibt ganz viele verschiedenen Variationen, das sind u.a.: «Adrenogenitales Syndrom (AGS)», «Hypospadie», «Turner Syndrom», «Gonadendysgenesien», «Mayer-Rokitansky-Küster-Hauser (MRKH)», «Klinefelter», «Androgeninsensitivität (CAIS, PAIS, MAIS)» und viele weitere. Intergeschlechtlichkeit ist ein Überbegriff zu diesen zahlreichen Variationen.

Weil der gesellschaftliche Diskurs auch in diesem Bereich immer noch stark von einer pathologisierenden Medizin geprägt wird, benennt diese die Variationen oft mit problematischen Begriffen wie «Syndrom». Deshalb sind diese Begriffe hier in Anführungszeichen gesetzt.

Wenn Personen sich fragen, ob bei ihnen eine intergeschlechtliche Variation vorliegt oder sie eine andere Art von Unterstützung benötigen, gibt es entsprechende Beratungsangebote bei InterAction Schweiz.

Menschenrechtsverletzungen an intergeschlechtlichen Kindern

Weil in unserer Gesellschaft immer noch ein sehr hoher Normierungsdruck in Richtung Zweigeschlechtlichkeit besteht, gibt es in unserem «Gesundheitssystem» immer noch die menschenrechtswidrige Praxis, dass in vielen Fällen bei Neugeborenen mit medizinischen Eingriffen eine Angleichung an eines der binären Geschlechter vorgenommen wird. Dies wird gemacht, obwohl diese Eingriffe in fast allen Fällen medizinisch nicht nötig wären. Früher wurden solche Eingriffe oft auch gemacht, ohne die Eltern darüber zu informieren. Heute werden zwar in der Regel Eltern in solche Entscheidungen einbezogen, aber in der Medizin besteht immer noch eine starke Tendenz, Druck in Richtung einer Normierung zu machen. Viele Eltern sind mit der Situation überfordert und deshalb sehr beeinflussbar. Mediziner*innen argumentieren oft, dass es Gründe für frühe medizinische Eingriffe geben würde. Nun gibt es aber für solche Argumente keine wissenschaftliche Evidenz. Deshalb ist es wichtig, dass sich Eltern auch selbst breit informieren (z.B. mit dem Leitfaden für Eltern: Unterstützen Sie Ihr intergeschlechtliches Kind, OII Europe).

Die Nationale Ethikkommission schreibt in ihrem Bericht 2012 klar: «Alle nicht bagatellhaften, geschlechtsbestimmenden Behandlungsentscheide, die irreversible Folgen haben, aber aufschiebbar sind, sollten aus ethischen und rechtlichen Gründen erst dann getroffen werden, wenn die zu behandelnde Person selbst darüber entscheiden kann.» (NEK Bericht [PDF], 2012). Aber es ist davon auszugehen, dass dieser Empfehlung oft nicht nachgekommen wird und die körperliche Integrität des Kindes ohne triftigen Grund verletzt wird. Über die traumatisierenden Erfahrungen von intergeschlechtlichen Menschen gibt es unzählige Berichte (siehe z.B.: Erfahrungen, InterAction Schweiz).

Verbot geschlechtsverändernder Eingriffe an intergeschlechtlichen Kindern

Weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich ohne Druck die Situation um die Genitalverstümmelungen an intergeschlechtlichen Personen (auch «IGM» genannt: Intersex-Genitalverstümmelungen) ändern wird, gibt es verschiedene Forderungen nach einem strafrechtlichen Verbot solcher Eingriffe in der Schweiz. In verschiedenen europäischen Ländern sind IGMs bereits verboten (siehe auch Rainbow Europe, ILGA-Europe). Auch die UNO empfiehlt der Schweiz, IGMs unter Strafe zu stellen (Beitrag bei InterAction, 2022). So wurde auch im 2022 eine entsprechende Motion eingereicht: «Strafrechtliches Verbot von geschlechtsverändernden Eingriffen an Kindern mit einer angeborenen Variation der Geschlechtsmerkmale» (Motion 22.3355, parlament.ch).

Warum es wichtig ist, Intergeschlechtlichkeit und non-binäres Geschlecht zu unterscheiden

In Medienberichten werden die Themen «Intergeschlechtlichkeit» und «non-binäres Geschlecht» oft vermischt. Zwar geht es in beiden Fällen um Geschlecht jenseits von Zweigeschlechtlichkeit. Aber im Fall von Intergeschlechtlichkeit betrifft das die körperlichen Merkmale einer Person und bei non-binären Personen geht es um die Geschlechtsidentität. Die meisten intergeschlechtlichen Menschen definieren sich als Frauen oder Männer und ein Grossteil der non-binären Menschen geht davon aus endogeschlechtlich zu sein. So sind bei diesen beiden Gruppen unterschiedliche Dimensionen von Geschlecht betroffen und es geht auch um unterschiedliche zentrale Anliegen.

Eine solche mediale Vermischung der beiden Themen war in Deutschland und Österreich zu beobachten, als es dort um die Anerkennung nicht-binärer Geschlechtseinträge ging. Dies hatte auch damit zu tun, dass in beiden Ländern die entsprechenden Klagen von intergeschlechtlichen non-binären Personen gewonnen wurden. Dadurch ist es auch dazu gekommen, dass zu Beginn in beiden Ländern die nicht-binären Geschlechtseinträge nur für intergeschlechtliche non-binäre Personen zugänglich waren. Mehr dazu siehe auch: Recht. In der Berichterstattung wurden die Themen «Intergeschlechtlichkeit» und «non-binäres Geschlecht» auch deshalb gleichgesetzt, weil diese im Fall der klagenden Personen auch effektiv «vereint» waren – denn diese spezifischen Personen sind non-binär und intergeschlechtlich (Schnittmenge in der Abbildung unten). Dadurch ist der Eindruck entstanden, dass nicht-binäre Geschlechtseinträge ein zentrales Anliegen von allen intergeschlechtlichen Menschen sei. Dies ist aber nicht der Fall. Wie oben erläutert, ist für diese Community vor allem das Verbot der Genitalverstümmelungen an intergeschlechtlichen Kindern zentral.

Das Thema «nicht-binäre Geschlechtseinträge» hingegen ist zentral für die Community von non-binären Menschen – ob intergeschlechtlich oder endogeschlechtlich. Deshalb ist es wichtig, dass wir bei Diskussionen in der Schweiz über die nicht-binären Geschlechtseinträge, die Themen «Intergeschlechtlichkeit» und «non-binäres Geschlecht» sauber trennen. Nur so können wir sicherstellen, dass die Wichtigkeit der Menschenrechtsverletzungen an intergeschlechtlichen Kindern nicht verwässert wird und die nicht-binären Geschlechtseinträge für alle non-binären Menschen zugänglich sein werden (mehr zu nicht-binären Geschlechtseinträgen).

Non-binäre intergeschlechtliche Menschen

Bekannte intergeschlechtliche Menschen, die sich auch auf dem non-binären Spektrum verorten:

Intergeschlechtliche Community unterstützen

Die meisten Organisationen für intergeschlechtliche Menschen sind sich einig, dass das wichtigste Thema das strafrechtliche Verbot der uneingewilligten, irreversiblen, unverhältnismässigen, geschlechtsverändernden Eingriffe ist – menschenrechtswidrige, medizinisch nicht notwendige Operationen. Dieses Thema kann über diese Schweizer Organisationen unterstützt werden: InterAction Schweiz und zwischengeschlecht.org.

Bei OII Europe gibt es auch einen Leitfaden für Allies: Die Menschenrechte intergeschlechtlicher Menschen schützen – Wie können Sie helfen? Wer Eltern mit einem intergeschlechtlichen Kind kennt, kann ihnen den Leitfaden für Eltern empfehlen: Unterstützen Sie Ihr intergeschlechtliches Kind (bei OII Europe).

Weitere Quellen


Text von: Evianne Hübscher
Erste Veröffentlichung: 26.6.2023 | Letztes Update: 1.7.2023